Migration und Flucht

Migration und Flucht
Deutsche Emigranten beladen ein Schiff in Hamburg. Quelle: wikimedia.org

Deutsche Emigranten beladen ein Schiff in Hamburg. Quelle: wikimedia.org

Nach einer langen Sommerpause hat Frau Christina Rajkovic wieder einen Artikel für unseren Blog verfasst. Dieses Mal handelt es sich um die Themen Flucht und Migration. Wir bedanken uns ganz herzlich bei Frau Rajkovic und wünschen Euch viel Spaß beim Lesen.
Weitere Artikel von Christina Rajkovic: Kroatien und Deutsche Siedlung auf dem Balkan

In den vergangenen Wochen schockierten die Nachrichten über die Bootsflüchtlinge von Lampedusa. In der zweiten Oktoberwoche starben 34 Menschen nach dem ihr Boot kenterte. Zwar konnten 206 Flüchtende, darunter auch Frauen und Kinder,[1] gerettet werden, der Schock des in der Woche zuvor verunglückten Flüchtlingsbootes mit min. 111 Flüchtlingen stand tief.[2] Und auch Anfang dieser Woche kentert erneut ein Boot voller Migranten, bei welchem 42 Migranten an Land gebracht werden konnten.[3] Seit Beginn des Jahres sind mehr als 36.000 Flüchtende aus afrikanischen Staaten über das Meer an die italienische Küste gelangt, so derStandard. Die über 400 zu Tode gekommenen schrecken weitere Flüchtende nicht ab.[4]

Was macht Europa so interessant? Weshalb verlassen zahlreiche Menschen ihre Heimat für ein Leben in Europa? Wieso begeben sich so viele Flüchtende in Lebensgefahr um nach Europa zu gelangen? Antworten auf diese Fragen scheinen komplex zu sein. Können jedoch auch auf einen Punkt gebracht werden: das Streben nach einem angenehmen, unbeschwerten Leben, ohne Armut und Angst um die Existenz. Laut der Genfer Flüchtlingskonvention verlassen Hunderttausende Flüchtlinge ihre Heimat aufgrund von politischer Verfolgung, dabei spielen die Religion, Nationalität, Abstammung und die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen eine große Rolle. Weitere Beweggründe sind Armut, Krieg und Hoffnungslosigkeit.[5]

Laut dem aktuellen Bericht der UN-Flüchtlingskommission fliehen aktuell weltweit 15,4 Millionen Menschen vor Krieg und Vertreibung. Der Großteil stammt aus Afghanistan, Somalia und dem Irak. Laut der Münchner Abendzeitung nimmt Deutschland weltweit am meisten Flüchtlinge auf. Ende vergangenen Jahres lebten nahezu 600.000 Geflüchtete in Deutschland.[6]

Gab es auch im 19. Jahrhundert ein „attraktives“ Asylland?

Flucht und Vertreibung im 19. Jahrhundert

Odsun: Vertriebene Sudetendeutsche warten mit Handgepäck auf ihren Abtransport. Bild: de.wikipedia.org

Odsun: Vertriebene Sudetendeutsche warten mit Handgepäck auf ihren Abtransport. Bild: de.wikipedia.org

Flucht und Vertreibung macht einen Großteil aller Wanderbewegungen aus. Im 19. Jahrhundert ging dies insbesondere mit der Eroberung von Gebieten und Imperien in Asien, Amerika und Afrika einher.

Warum fand Migration und Eroberung zur gleichen Zeit statt? Ein bedeutender Faktor beider Phänomene war die Industrialisierung. Kennzeichnend ist, dass Menschen aus Europa zumeist aus dem Machtbereich ihres Heimatlandes fortgingen zB Italien, Deutschland, Österreich, Skandinavien. Zahlreiche Menschen aus Großbritannien und Spanien wiederum wanderten in ihre Kolonien aus. Asiatische Auswanderer zog es im Gegenzug eher in die Kolonialreiche der Großmächte. Imperialismus und Migration steht somit in engem Zusammenhang und bildete nicht nur eine neue Kultur, sondern auch ein neues Verständnis über den Begriff der Nation und Kultur.[7] Dies zeigt, dass Migration als ein durchaus positiver Effekt gesehen werden kann. Durch diese entsteht nicht nur Verständnis und Anerkennung füreinander, sondern sie prägt auch die bestehende Kultur und Geschichte und lässt diese in einem neuen und gemeinsamen Blickwinkel entstehen.

Die Schweiz als beliebtes Asylland des 19. Jahrhunderts

Bild: aare24.ch

Bild: aare24.ch

Im 19. Jahrhundert war die Schweiz ein „klassisches“ Asylland. Ab dem Wiener Kongress 1815 und der darauf folgenden Restaurationspolitik war die Schweiz eines der interessantesten Ziele für politische Flüchtlinge aus allen europäischen Ländern. Liberale aus Deutschland, italienische Carbonari, ehemalige Mitglieder des französischen Nationalkonvents, aber auch Bonapartisten aus Frankreich flüchteten in das kleine Alpenland. Diese stammten insbesondere aus der Mittel- und Oberschicht, sowie aus Intellektuellenkreisen. Viele dieser Menschen mussten aufgrund ihrer politischen Tätigkeit in ihrem Heimatland die Flucht ergreifen. Bekannte Persönlichkeiten, die in der Schweiz Zuflucht fanden waren unter anderem Pellegrino Rossi und die Brüder Wilhelm und Ludwig Shell.

1830 flüchteten zahlreiche polnische Aufständische gegen die russische Herrschaft in die Schweiz. So hielten sich zu diesem Zeitpunkt mehr als 400 Polen in Bern auf, die zuvor von Frankreich ausgewiesen wurden. Die liberale Schweiz ermöglichte den Asylanten weiterhin ihre Kameraden in der Heimat zu unterstützen. Da den Nachbarstaaten die Rolle der Schweiz missfiel, wurde 1823 ein „Presse- und Fremdenkonklusum“ beschlossen. Die Kantone mussten von nun an die Berichterstattung überwachen. Ab 1848 befanden sich etwa 10.000 bis 12.000 deutsche Liberale, französische Republikaner, Italiener und Ungarn in der Schweiz. Nach dem Staatsstreich Napoleons III. im Jahr 1851 flüchteten weitere Franzosen in die französische Schweiz. [8]

Zwar verlor die Flüchtlingsfrage nach 1860 an Gewicht, jedoch suchten immer noch zahlreiche Flüchtende um Asyl an. Mehr als 2.000 Polen flüchteten nach der Niederschlagung des Aufstands von 1863-64 in die Schweizer Kantone. Infolge des Deutsch-Französischen Krieges 1870-71 wanderten 1.800 bis 2.500 Zivilevakuierte aus Straßburg aus und 87.000 Soldaten der Bourbakiarmee wurden in die Schweiz aufgenommen, sowie ab den 1860er auch sozialistische Franzosen. Bekannte Asylanträger waren etwa der Maler Gustave Courbet, ein Mitglied der Pariser Kommune. Durch die Aufnahme der politischen Flüchtlinge kam die Schweiz erneut ins Gefecht. Diese musste nach der Wohlgemuth-Affäre 1889 durch Österreich und Russland den Bundesanwalt wiedereinsetzen. Unter diese kantonische Polizeiüberwachung fielen nun nicht mehr nur die Sozialdemokraten, sondern auch Revolutionäre und Anarchisten. Diese waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere aus Russland, Polen und Bulgarien in die Schweiz gelangt. [9]

Die Schweiz konnte wirtschaftliche, kulturelle und auch politische (trotz Problemen mit den Nachbarstaaten) Vorteile durch die Zuwanderung verzeichnen. Die freizügige Politik (z.B. wurden keine Papiere benötigt, um in die Schweiz einzureisen) wirkte sich besonders auf die intellektuellen Einwanderer aus. Viele Migranten und Migrantinnen waren Akademiker und brachten ihre Ideen und Gedanken mit an die Schweizer Universitäten. So wurden etwa alle elf Lehrstühle durch ausländische Professoren besetzt. Es flohen aber auch zahlreiche Menschen, die im handwerklichen Sektor tätig waren, in das kleine Alpenland. So brachten etwa insbesondere deutsche Handwerker ihr technologisches Wissen mit und förderten die Wirtschaftszweige der Schweiz maßgeblich. Die bäuerlichen Migranten und Migrantinnen waren zwar nicht sehr angesehen, da sie, wie auch heute so oft propagiert, der Bevölkerung die Arbeit wegnehmen würden. Jedoch wurde bald klar, dass ohne die zusätzlichen Arbeitskräfte im bäuerlichen Bereich die Wirtschaft niemals so schnell anwachsen hätte können.

Weiters wurde die Einwanderungsgesellschaft von Unternehmern vervollständigt. So etwa migrierte Henry Nestlé aus Deutschland in die Schweiz und gründete dort die heute weltweit bekannte Firma. Weiters stammen die Gründer der Firmen Maggi aus Italien, Wander aus Deutschland oder Ciba aus Frankreich.[10] Mit Beginn des Ersten Weltkrieges stieg das Interesse der Schweiz als Asylland noch weiter an.

Nicht nur das Beispiel Schweiz steht für die positiven Auswirkungen von Migranten in einem (Asyl-)Land. Auch die USA und Kanada sind ein Paradebeispiel für ein funktionierendes Aufnahmeland von Migranten und Migrantinnen, sind doch abertausende Europäer im 19. Jahrhundert nach Amerika ausgewandert. Flüchtende bringen nicht nur wertvolle Kulturen und Erfahrungen mit, sondern unterstützen die Wirtschaft der neuen und alten Heimat maßgeblich. Mit einer Ausbildungs- und/oder Arbeitsmöglichkeit können Armut und viele Konflikte umgangen werden.

Stammen Sie aus der Schweiz und haben ausländische Wurzeln? Wurden Ihre Vorfahren vielleicht auch durch die politische und wirtschaftliche Lage angetrieben, in die Schweiz auszuwandern? Befanden sich Ihre Verwandten in politischen Clubs? Welche Hintergründe haben die Einwanderung in die Schweiz? Wir sind gespannt…
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Literaturempfehlung:

Patrick Manning, Wanderung, Flucht, Vertreibung. Geschichte der Migration (Essen 2007).

Historisches Lexikon der Schweiz: Flüchtlinge, online unter: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D16388.php

Ohne uns keine Schweiz, Flüchtlinge, online unter: http://www.ohne-uns-keine.ch/Geschichte.5825.0.html

Willi Wottreng, Ein einzig Volk von Immigranten. Die Geschichte der Einwanderung in die Schweiz (Zürich 2001).

Josef Martin Niederberger, Die Entwicklung einer schweizerischen Integrationspolitik, deutschsprachige Vorlage für: „Le développement d’une politique d’integration suisse.“ In: Hans Mahnig et al., Histoire de la politique de migration, d’asile et intégration en Suisse depuis 1948. » (Zürich 2005)

Quellen:

[1] http://derstandard.at/1381368370789/Fluechtlingsboot-vor-Lampedusa-in-Seenot-Mehrere-Tote-befuerchtet

[2] http://derstandard.at/1379292903588/Mindestens-50-Fluechtlinge-vor-Lampedusa-gestorben

[3] http://derstandard.at/1381368370789/Fluechtlingsboot-vor-Lampedusa-in-Seenot-Mehrere-Tote-befuerchtet

[4] http://derstandard.at/1381368370789/Fluechtlingsboot-vor-Lampedusa-in-Seenot-Mehrere-Tote-befuerchtet

[5] http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.fluechtlinge-und-migranten-die-voelkerwanderung-warum-so-viele-in-die-eu-wollen.b3d3c6ac-ed10-437e-ae39-a3ace22800a3.html

[6] http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.fluechtlinge-und-migranten-die-voelkerwanderung-warum-so-viele-in-die-eu-wollen.b3d3c6ac-ed10-437e-ae39-a3ace22800a3.html

[7] Patrick Manning, Wanderung, Flucht, Vertreibung. Geschichte der Migration (Essen 2007), S 215-19.

[8] http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D16388.php

[9] http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D16388.php

[10]http://www.     ohne-uns-keine.ch/Geschichte.5825.0.html

Bemerkungen

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  • Rajkovic Barbara

    9. November 2013

    Super Artikel…

  • Remo

    11. November 2013

    Interessanter Artikel.
    Meine Urgrosseltern aus der Linie meines Vaters sind Beispiele von Migration aufgrund wirtschaftlicher Aussichtslosigkeit. Mein Urgrossvater kam um 1890 rum aus Italien (Aune di Sovramonte), zusammen mit einem seiner Brüder, in die Schweiz. Er war ein Steinmetz und Bildhauer. In der Schweiz heiratete er seine deutschstämmige Frau, deren Vater, Mühlenarbeiter & Bauer, als junger Bub aus Bodman, dem heutigen Bodman-Ludwigshafen in die Schweiz einwanderte und dort eine Schweizerin heiratete.
    Meine Urgrosseltern hatten 5 Buben, welche folgende Berufe erlernten: Architekt, Schneider, Schuhmacher, Schreiner, Diamantschleifer.
    Dazu haben sie noch den Sohn eines, sehr früh verstorbenen, Bruders bei sich aufgenommen.
    Mein Urgrossvater (relativ früh Witwer geworden) hat es kurz vor Ausbruch des 2. Weltkrieges wieder in sein Heimatdorf gezogen, wo er noch 14 Jahre lebte.
    Mein Grossvater heiratete in der Schweiz sein deutschstämmiges Herzblatt. Sie stammte aus Brötzingen (dem heutigen Pforzheim).
    Beste Grüsse
    Remo