Eine ganz(e) neue Familie!

Eine ganz(e) neue Familie!
(c) Egger & Lerch/ M. Krebs

(c) Egger & Lerch/ M. Krebs

Vor 3 Wochen haben wir den literarischen Text „Vierundsechzig Striche“ unserer Nutzerin Eva Woska-Nimmervoll aus Österreich vorgestellt. Darin beschrieb sie, wie sie immer wieder nach ihrem Großvater fragte und nie eine Antwort erhielt. Doch die Geschichte geht nun weiter. Viel Spaß beim Lesen!

Ich habe keine Tochter namens Mimi. Doch sonst stimmt alles an meinem Text: Ich hatte eine Oma ohne Mann und eine Mutter ohne Vater. Als ich darüber schrieb, sah es so aus, als würde ich meinen Großvater niemals finden. Und das, obwohl ich seinen Namen wusste. Es gab ihn einfach zu oft: in Mitgliederregistern und Vermisstenlisten, auf Grabsteinen und in Stammbäumen auf MyHeritage.

Beim Ausmisten des Dachbodens in meinem Elternhaus stieß ich voriges Jahr auf ein paar alte Briefe, von einem Heini an meine Oma. „Also, liebe Lisl, Du wirst Dich mit dem Gedanken vertraut machen müssen, dass ich Dich heiraten werde“, stand da. Er hatte auch geschrieben, er sei wieder verwundet und daheim bei seinen Eltern. Daheim war eine Adresse in Gohr.

Lisl – meine Großmutter

Lisl – meine Großmutter

Gohr war mir bei meinen Recherchen in den Jahren davor auch untergekommen – nun wusste ich, wo ich einfach noch einmal nachsehen musste. Und tatsächlich: Auf MyHeritage fand ich Heinrich aus Gohr, Nachname und Alter passten genau. Ich kontaktierte Klaus, den Inhaber des Stammbaums. Der fing sofort zu recherchieren an. Bereits nach ein paar Tagen hatte er Neuigkeiten für uns: Es gab in seinem Ort Leute, die es für möglich hielten, dass der gesuchte Heini mit mir verwandt sein könnte.

„Demnach müssten Sie unsere Nichte sein!“

Diese plötzliche Nähe zu potenziellen Verwandten war mir ein wenig unheimlich. Ich dachte: Vielleicht lebt Heini noch und will nichts von seiner Tochter wissen? Vielleicht will diese Familie alles von uns wissen und steht unangemeldet vor unserer Tür? Vielleicht war diese Familie ja schon vor meiner Mutter da und will gar nicht wahrhaben, dass Heini noch eine Tochter hatte? Vielleicht ist er sowieso der falsche?

Ich schrieb Klaus, er möge bitte mal vorsichtig bei jenen Leuten nachfühlen, ob eventuell Interesse an einer Kontaktaufnahme bestünde. Doch fast zeitgleich erhielt ich eine Mail von einer Carla, die von unserer Suche erfahren hatte. In der E-Mail schrieb sie:

„Unser Vater, Heinrich, ist am 7. September 2014 verstorben. Erst vor kurzer Zeit haben wir beim Sichten seines Nachlasses eine Kassette mit alten Briefen gefunden. Demnach ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Ihre Mutter die Tochter unseres Vaters ist. Er hat darüber mit uns, seinen beiden Kindern, nie gesprochen. Demnach müssten Sie unsere Nichte sein!?“

Heini – mein Großvater

Heini – mein Großvater

Sie hatte einen Brief vom Dezember 1944 abfotografiert und beigefügt. Er war von meiner Großmutter.

Ich schrieb sofort zurück. Wir schickten uns gegenseitig Fotos der Briefe und Fotos von meiner Oma und Heini und schließlich auch von uns selbst. Wir konnten auch die Geschehnisse von damals anhand der Korrespondenz und anderer Unterlagen rekonstruieren.

Was 1944 wirklich geschah …

Der Soldat Heini aus Gohr lag verwundet in einer österreichischen Kleinstadt im Lazarett. Hier lernte er Lisl, eine blutjunge Mutter eines Sohnes kennen. Ihr Ehemann war an der Front und sie allein mit dem kleinen Erich.

Wie oft trafen sich Lisl und Heini? Waren sie verliebt oder nur einsam während der Kriegstage? Darauf gibt es keine Hinweise. Wer von uns kann erahnen, wie sich junge Menschen zu jener Zeit fühlten?

Als Heini wieder an der Front war, schrieb ihm Lisl, sie sei von ihm schwanger. Lisls Mann kam auf Heimaturlaub nach Hause. Sie gestand ihm ihren Seitensprung und die Schwangerschaft. Tief gekränkt und in seiner Ehre verletzt, reichte er sofort die Scheidung ein. Wenig später fiel er.

Das Gericht entzog Lisl das Sorgerecht für ihren Sohn Erich und Lisls Schwiegermutter holte ihn zu sich. Lisl litt unter der Trennung von ihrem Sohn, kämpfte immer wieder bei Gericht um ihn, sah ihn aber erst viele Jahre später wieder.

Zu einer Heirat von Lisl und Heini kam es nie. Nichts deutet darauf hin, dass sie sich jemals wieder begegnet wären. Sissi, meine Mutter, kam Anfang 1945 zur Welt. Sie wuchs in Armut und vaterlos auf.

Sissi – meine Mutter

Sissi – meine Mutter

Heini lag bald nach seinem Aufenthalt in Österreich wieder verwundet in einem Lazarett, diesmal in Deutschland. Und wieder traf er eine Frau, die er diesmal heiratete. 1946 wurde seine Tochter Carla geboren und 1949 sein Sohn Friedel.

Heini hatte für seine uneheliche Tochter Sissi jahrelang nach seinen Möglichkeiten Alimente bezahlt. Und ihren Brief, den sie als Kind an ihn geschrieben hatte, hatte er auch erhalten. Er hatte sich nie gemeldet, aber die Briefe und Fotos mehr als ein halbes Jahrhundert lang aufbewahrt.

Plötzlich Familie!

Ein Literaturpreis führte mich kurz nach unserer ersten Kontaktaufnahme nach Hamburg und Plön. Halbonkel Friedel – er lebt heute in Schwerin – setzte sich kurzerhand ins Auto und fuhr mehre Stunden, nur um mit mir essen zu gehen. Es war ein wunderbares Gefühl, mit 46 einen neuen Onkel zu bekommen. Wir entdeckten viele Gemeinsamkeiten: Friedel ist wie ich dem geschriebenen Wort verfallen und er sammelt Eulen so wie meine Schwester.

Er erzählte mir von Heini, meinem Großvater. Anfangs hatte er seine österreichische Tochter seiner Familie gegenüber verschwiegen und die Alimente auch heimlich überwiesen. Als seine Frau es herausfand, machte sie ihm große Vorwürfe. Das Geld reichte ja kaum für die eigene junge Familie. Als Heini 2014 starb, war er 93 Jahre alt und hatte nie mehr über seine Tochter in Österreich gesprochen.

Nur einen Monat nach der ersten Mail flog meine Mutter nach Deutschland, um ihre Geschwister endlich kennen zulernen. Carla holte sie am Flughafen mit einer Tafel ab, auf der stand „Willkommen Sissi“. Obwohl sie einander nie zuvor begegnet waren, fühlte sich ihre Begegnung eher wie die von Schwestern an, die sich einfach schon lange nicht mehr gesehen hatten.

Diese Geschichte zeigt: Auch mit 71 kann man noch jüngere Geschwister bekommen.

Nun fühlen wir uns bereits richtig verwandt mit unserer neuen Familie. Es gibt sie also wirklich, die Halbtante, die Viertelcousine und sogar den Achtelneffen, über die ich in meinem Text geschrieben habe.

Tante Carla und ihr Mann und Onkel Friedel und seine Frau haben uns bereits in Österreich besucht. Auf das „Halb-“ verzichten wir alle mittlerweile. Denn die Familie fühlt sich nun für uns ganz an.

PS: Meine Mutter hat die dichten Augenbrauen tatsächlich von Heini geerbt. Und ich auch!