Geschichte: Arbeitsmigration

Geschichte: Arbeitsmigration

Vor Kurzem haben wir hier im Blog eine neue Kategorie mit dem Thema Geschichte eingeführt. Herr Hans-Peter Geis hat uns schon mehrmals mit seinen Texten eine Freude bereitet und auch Frau Christina Rajkovic hat bereits hier über Ahnenforschung und Migration berichtet.
Heute setzt sie die Reihe fort und erzählt über die arbeitsbedingte Migration im 19. Jahrhundert.

Viel Spaß beim Lesen!

Arbeitsmigration ist ein brandaktuelles Thema. Durch die Krisenzeiten des südeuropäischen Arbeitsmarktes, werden in Zentral- und Nordeuropa über hunderttausend Menschen erwartet. Der Spiegel berichtet etwa von 2,2 Millionen Zuwanderern bis 2017. Diese Zahlen wurden einer Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts Kiel Economics entnommen.

Die Welt präsentiert eine prozentuale Auflistung der Zuwanderer, bei welcher Griechen, Spanier und Portugiesen die vordersten Plätze belegen. Gründe: Finanz- und Schuldenkrise, Sparmaßnahmen, Verlust des Arbeitsplatzes, Überqualifikation, mangelnde Perspektiven, etc. und Deutschland wird als DAS Land für Arbeitssuchende beschrieben.

Die süddeutsche Zeitung bezieht sich auf die statistischen Veröffentlichungen des Bundesamtes Deutschland. Die Nettowanderung (Ausgleich von Ein- und Auswandern) befand sich von Januar bis Juni 2012 bei 300.000 Personen.

Ist diese Arbeits-Zuwanderungswelle wirklich eine Neuheit des 20. und 21. Jahrhunderts? Kam solch eine Krisensituation am Arbeitsmarkt tatsächlich noch nie auf?
Die Antwort kann erahnt werden: Nein!

Arbeitsmigration im 19 Jahrhundert

Krisenhafte Zeiten sind auch in der Geschichte zu finden. Besonders das 19. Jahrhundert gilt als ein sehr mobiles Zeitalter. Dieses ist insbesondere von der Arbeitsmigration gekennzeichnet und wurde von den Migrationsmustern der Frühen Neuzeit geprägt. Traditionelle Migrationsformen des langen 19. Jahrhunderts und auch teilweise der Frühen Neuzeit waren etwa die Gesellenwanderung, der Städtewachstum (Urbanisierung), das Entstehen neuer Stadttypen wie etwa der Industriestädte, sowie auch die transatlantische Migration. Besonders bemerkbar war die Zunahme der Binnenmigration, welche sich in einer Land-Land und einer Land-Stadt-Migration manifestierte.

Die Urbanisierung und der Aufschwung des Produktions- und Handelssektors erforderten einen Ausbau der Verkehrsverbindungen, die Verbesserung des Transportangebotes sowie auch den Aufbau eines Kanal- und Eisenbaunetzes. Die nun aufgehobene Leibeigenschaft und die neu entstandene allgemeine Auswanderungsfreiheit, schafften den gesetzlichen Rahmen für die Migration [1].

Stadtansicht von 1854 - Wikipedia.de

Stadtansicht von 1854 - Wikipedia.de

Woher kam der Aufschwung? Nach dem Ende der Napoleonischen Kriege fand der bereits erwähnte Auf- und Ausbau der Städte und Straße statt, es wurden auch Schifffahrtskanäle, der Eisenbahnbau und der Aufbau von Fabrik- und Industriebetrieben weiter angetrieben. Dies ermöglichte wiederum die Expansion des Dienstleistungssektors, welcher vor allem durch den Handel, das Gast- und Schankgewerbe, aber auch dem häuslichen Dienstgewerbe ausgemacht wurde. Somit waren alle Sektoren betroffen und die wirtschaftlichen Aspekte in Zusammenhang mit den sozialen Rahmenbedingungen lösten eine gewaltige Migrationswelle aus [2].

Erfindungen im technischen Bereich ermöglichten den Übergang zur Massenproduktion, in welcher die Textilerzeugung und die Schwerindustrie zu den Leitsektoren wurden. Im Zentrum der Schwerindustrie standen der Kohlebau, die Eisen- und Metallverarbeitung sowie der Maschinenbau. Der „Protoauswanderer“ war wie das Wort schon erraten lässt: männlich. Er machte sich alleine auf ins fremde Land/Gebiet und holte eventuell seine Familie nach [3].

Das Ruhrgebiet und seine Arbeitskräfte
Das Ruhrgebiet ist ein Beispiel für diese Migrationsform. Hier dominierten männliche Zuwanderer aus den polnischen Gebieten. Ein hoher Anteil machten auch Arbeitskräfte aus Italien, Luxemburg und Gebieten des heutigen Österreichs.

Inschrift der Polnischen Arbeiterbank, Klosterstr. 2, Bochum - Wikipedia.de

Inschrift der Polnischen Arbeiterbank, Klosterstr. 2, Bochum - Wikipedia.de

In den 1870ern setzte eine Anwerbung der „Ruhrpolen“ ein. Dadurch setzte eine Zuwanderung von oberschlesischen Bergarbeitern z.B. nach Bottrop ein. Diese Pioniermigranten“, wie Jochen Ottmar sie nennt, zogen immer mehr Zuwanderer aus Schlesien an und lösten eine „Kettenwanderung“ aus [4].

James H. Jackson teilt die bedeutendsten Städte im des Ruhrgebietes industriellen Bereich in drei Gruppen. Eine Gruppe machten Köln und Düsseldorf aus. Diese Städte erlebten ein mäßiges Bevölkerungswachstum. Zur zweiten Gruppe zählten Barmen, Elberfeld und Krefeld, welche Textilzentren waren und trotz hoher Geburtsraten keine übermäßigen Bevölkerungswachstum aufwiesen. Die dritte Gruppe machten die Städte Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund aus. Der große Unterschied lag an der Nachfrage der Schwerindustrie an männlichen Arbeitskräften. Dies führte zu einer Überpräsentation der Männer aber auch zu einer weitaus höheren Geburtenrate, im Vergleich zu den zwei obengenannten Gruppierungen [5].

Eine ähnliche Situation fand an der nördlichen Grenze Frankreichs zu Belgien statt, das sich zu einem Zentrum für die Kohlenförderung entwickelte. Dieses Gebiet bot ein Angebot für Arbeitskräfte aus Flandern und Wallonien. Luxemburg etwa war ein Anziehungspunkt für Arbeitssuchende im Minensektor. Diesem Angebot folgten im Süden Luxemburgs insbesondere italienische Arbeitsmigranten. Weitere Beispiele für die Zuwanderung durch die Schwerindustrie lassen sich auch auf den Gebieten der ehemaligen Habsburgermonarchie finden [6].

War einer Ihrer Vorfahren ein polnischer Zuwanderer des Ruhrgebiets? War ihr Ahne  ein Saisonarbeiter oder baute er sich ein neues Leben auf? Folgte ihm seine Familie nach?

[1] Sylvia Hahn, Arbeitsmigrationen, In: Markus Cerman/ Franz X. Eder/ Peter Eigner/ Andrea Komlosy/ Erich Landsteiner (Hgg.), Wirtschaft und Gesellschaft. Europa 1000-2000, (Innsbruck/Wien/Bozen 2011), S.271f.
[2] Sylvia Hahn, Arbeitsmigrationen, S.272.
[3] Ebd., S.272.
[4] Jochen Ottmar, Migration im 19. und 20. Jahrhundert. In: Enzyklopädie Deutscher Geschichte. Band 86 (Oldenburg/2009), S. 27.
[5] Sylvia Hahn, Migration- Arbeit- Geschlecht. Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (Göttingen 2008), S.72f.
[6] Sylvia Hahn, Arbeitsmigrationen, , S.272.

Literaturvorschlag:

Cristoph Kleßmann, Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870-1945 (Göttingen 1978).
James H. Jackson, Migration and Urbanization in the Ruhr Valley 1821-1940, (Athlantic Highlands 1997).
K. Murzynowska, Die polnischen Erwerbswanderer im Ruhrgebiet während der Jahre 1880-1914 (Dortmund 1979.)
Sylvia Hahn, Migration- Arbeit- Geschlecht. Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (Göttingen 2008).
Sylvia Hahn, Arbeitsmigrationen, In: Markus Cerman/ Franz X. Eder/ Peter Eigner/ Andrea Komlosy/ Erich Landsteiner (Hgg.), Wirtschaft und Gesellschaft. Europa 1000-2000, (Innsbruck/Wien/Bozen 2011), S.264-278.