Interview mit Torkel S. Wächter

Interview mit Torkel S. Wächter

Torkel S. Wächter wurde 1961 in Stockholm geboren. Er hat an den Universitäten in Lund, Melbourne und Leipzig studiert, sowie an Paideia – The European Institute for Jewish Studies in Sweden und an der Königlichen Kunsthochschule in Stockholm. Zwischen 1986 und 1999 arbeitete er als Pilot für SAS. Sein erster Roman Samson erschien 1997 im Verlag Natur och Kultur, sein zweiter Roman Ciona – eine Autobiographie, erschien 2002 bei AlfabetaAnamma und wurde für den wichtigsten schwedischen Literaturpreis, den Augustpreis, nominiert. Seit 2006 ist er sowohl schwedischer als auch deutscher Staatsbürger. Torkel ist außerdem der Gründer der Webseite 32postkarten.com.


MH: Wie ist Ihr Interesse für Ahnenforschung entstanden?

TSW: Ich habe niemals mit meinem Vater Deutsch gesprochen und er hat mir nur zusammenfassend über seine Erfahrungen in Deutschland erzählt. Ich wusste, dass meine Großeltern deportiert wurden und den Krieg nicht überlebt hatten, aber ich kannte die Einzelheiten nicht. Ich war 40 Jahre alt als ich das erste Mal ein Foto meiner Großeltern sah! Als ich selber Vater geworden bin habe ich gedacht, dass ich meinen Kindern ihre Familiengeschichte erzählen wollte, so entstand mein Interesse für die Familienforschung. Mich fasziniert an der Ahnenforschung, dass man irgendwo eintaucht und als ein anderer Mensch irgendwo anders raus kommt.

MH: Bis ins wievielte Jahrhundert reicht Ihre Ahnenforschung?

TSW: Ich bin eigentlich ein Amateur-Ahnenforscher. Ich habe mich auf das frühe 20.Jahrhundert konzentriert, die Zeit meiner Großeltern. Ich habe bis ins 18.Jahrhundert nachgeforscht und es wäre sicherlich möglich noch weiter zu kommen. Das Hamburger Staatsarchiv hat viel Material, nur leider fehlt mir die Zeit dafür.

Der Name Wächter stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert, als die deutschen Juden feste Nachnamen annahmen. Vorher war es Tradition gewesen, dass der Vorname des Vaters als Nachname der Kinder in der nächsten Generation weitergeführt wurde. Der Urahn, Tobias Elias, hatte im Einklang mit diesem alten Brauch seinen Nachnamen vom Vater (Elias Jacob) übernommen.

Tobias Elias war Musiker und Mitglied der jüdischen Bestattungsgesellschaft Chevra Kadischa. Er wachte in der Nacht vor der Beerdigung einer Person die Leiche, was als eine der vornehmsten und guten Taten betrachtet wurde, da der Verstorbene ja keine Möglichkeit besaß, die Tat zu vergelten. Tobias Elias wurde auf Jiddisch Tobias Wacherle genannt, woraus im Hochdeutschen Tobias Wächter wurde. Tobias Elias wurde im Jahre 1783 in der freien Hansestadt Hamburg geboren.

MH: Was war Ihr schönstes Ahnenforschungs-Erlebnis?

TSW: Lassen Sie mich zwei Beispiele geben:

1. Der Beste Freund meines Vaters hieß Bruno Meyer, genannt Simba. Zwischen 1934 und 1950 hatten sie keinen Kontakt, weil Simba als Hitler-Gegner im KZ war, und danach im Gulag als Kriegsgefangener, weil er zum Schluss des Krieges in einer SS-Batallione zwangseingezogen wurde.

Nach dem Krieg hatten Simba und mein Vater einen regen Briefwechsel. Von den Briefen habe ich verstanden, dass Simba und seine Frau, Ruth Meyer, sich viel um mich gekümmert haben als ich sehr klein war. Und ich erinnere mich sie in Hamburg getroffen zu haben.

Der letzte Brief von Simba ist 1983 geschrieben worden. Er ist kurz nach meinem Vater gestorben. Vor einigen Jahren habe ich in Hamburg im Briefkopf eines 30 Jahre alten Briefes Simbas eine Telefonnummer gefunden, ich habe diese Nummer angerufen. Und wer hat geantwortet? Ruth Meyer, die mir die Windel gewechselt hat als ich ein Kind war!

2. Vor einigen Wochen hat mir eine Frau aus Manchester, die die Internetseite gesehen hatte, eine E-Mail geschickt. Zusammen haben wir feststellen können, dass ein Sohn von Tobias Wächter sich in Manchester in den 1830er Jahren niedergelassen hat und, dass ich in dem Vereinigten Königreich viele Verwandte habe.

Das Haus, in dem mein Vater aufwuchs, existiert heute nicht mehr. Im Eppendorfer Weg 40 befindet sich stattdessen eine anonyme Grasfläche. Auf dem Foto sieht man den Balkon (über dem Frucht- und Gemüsegeschäft Barehsel und direkt neben der Mauernische mit der kleinen Statue), wo das bewusste Leben meines Vaters in Minnas Armen und mit Gustav und den Brüdern begann.

Das Haus, in dem mein Vater aufwuchs, existiert heute nicht mehr. Im Eppendorfer Weg 40 befindet sich stattdessen eine anonyme Grasfläche. Auf dem Foto sieht man den Balkon (über dem Frucht- und Gemüsegeschäft Barehsel und direkt neben der Mauernische mit der kleinen Statue), wo das bewusste Leben meines Vaters in Minnas Armen und mit Gustav und den Brüdern begann.

Eppendorfer Weg 40, September 1932, Max und Doras Hochzeit.

Eppendorfer Weg 40, September 1932, Max und Doras Hochzeit.

MH: Ihre Webseite 32postkarten.com hat unsere Nutzer sehr berührt. Würden Sie kurz über 32postkarten.com erzählen? Wie sind Sie dazu gekommen diese Webseite zu erstellen und was möchten Sie damit bewirken?

TSW: Die Postkarten sind nur ein kleiner Teil des Nachlasses meines Vaters, aber als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, war ich sehr beeindruckt. Dann habe ich nicht gewusst wer sie an wen geschrieben hatte, und auch nicht worum es ging. Ich sehe die Postkarten als eine Serie von Kunstdrucke, die fast identisch sind.

Ich habe dann die Geschichte der Postkarten erforscht und ich habe verstanden, dass sie für mich und meine Familie sehr wichtig sind. In den Werkstätten der Kunsthochschule habe ich eine begrenzte Buchauflage für die Familie hergestellt. Ich habe dann verstanden, dass es großes Interesse für dieses Material gab und ich habe weiter mit den Postkarten gearbeitet. Das Projekt bewegt sich im Grenzbereich zwischen Kunst und Literatur.

Ich mag, dass man im Internet die Postkarten in Vergrößerung studieren kann. Das Textformat passt sehr gut zum Internet, weil die Texte nicht zu lang sind. Ohne Kommentare kann man die Postkarten kaum verstehen, aber ich wollte die Kommentare kurz halten, so dass die Postkarten im Vordergrund bleiben. Ich finde es auch interessant diese Zeitreise in „simulierter Echtzeit“ zu machen.

Und all dies darf ich auf dem Netz zusammen mit anderen untersuchen. Alle die sich betroffen fühlen können mitmachen, es kostet nichts, man kann so viel lesen wie man wünscht. Man kann sich für den Newsletter anmelden oder sich eben davon abmelden.

Minna und Gustav Wächter, Bispingen 1929, im Sommer vor dem großen Börsenkrach.

Minna und Gustav Wächter, Bispingen 1929, im Sommer vor dem großen Börsenkrach.

Gustav Wächter, Bispingen 1932, als die Arbeitslosigkeit ihren Höhepunkt erreichte.

Gustav Wächter, Bispingen 1932, als die Arbeitslosigkeit ihren Höhepunkt erreichte.

MH: Mittlerweile sind Sie selbst Vater, was wissen Ihre Kinder über die eigene Familiengeschichte und wie vermitteln Sie ihnen Ihre Vergangenheit?

TSW: Man könnte sagen, als der Zug mit meinen Großeltern, Minna und Gustav Wächter, Hamburg verlässt, endet die Geschichte, die damit begann, denn Tobias Elias nahm den Familiennamen Wächter an. Minna und Gustav sind all ihrer Besitztümer, ihrer Würde und ihrer deutschen Staatsbürgerschaft beraubt worden, Familie Wächter aus Hamburg existiert nicht mehr!

Aber es gibt eine Fortsetzung der Geschichte von Minna und Gustav und ihrer deutsch-jüdischen Familie. Ich denke nicht an das, was geschah, als der Zug Riga erreichte, weil dies nichts mit den Personen zu tun hat, welche meine Großmutter und mein Großvater waren. Ich denke vielmehr an meine Kinder, Minnas und Gustavs Urenkel. Sie haben Minnas Augen und Gustavs Optimismus geerbt und sie haben die deutsche Staatsbürgerschaft zurückerhalten, die ihren Vorfahren genommen wurde.

Wenn meine Kinder und ich auf dem Weg zur Deutschen Schule in Stockholm durch die Fußgängerallee in der Mitte des Karlavägens gehen, sprechen wir oft über meine Großmutter und meinen Großvater. Für mich geht die Geschichte von Minna und Gustav Wächter unter den Linden des Karlavägen weiter. Sie geht weiter mit dem hebräischen Wort Zachor, der Ermahnung, sich zu erinnern. Zachor weist nicht in die Vergangenheit, sondern in Gegenwart und Zukunft. Das Erinnern ist eine Aktivität, der man sich in der Gegenwart widmet und die in die Zukunft weist. Indem wir uns erinnern, halten wir die Vergangenheit lebendig.

Minna und Gustav Wächter, Hamburg 1935, als zwei ihrer Söhne im Konzentrationslager Fuhlsbüttel eingesperrt waren.

Minna und Gustav Wächter, Hamburg 1935, als zwei ihrer Söhne im Konzentrationslager Fuhlsbüttel eingesperrt waren.

Bispingen im Sommer 1928, die NSDAP kam noch auf nur 2,6% der deutschen Wählerstimmen.

Bispingen im Sommer 1928, die NSDAP kam noch auf nur 2,6% der deutschen Wählerstimmen.

MH: Welcher Nationalität fühlen Sie sich eigentlich hingezogen?

TSW: Ich bin in Schweden mit einem sehr deutschen Vater groß geworden. Als Erwachsener habe ich in vielen verschiedenen Ländern gelebt. Ich denke, wo es Menschen gibt die mich kennen und respektieren, dort bin ich zu Hause.

Deutschland und meine Familie sind heute gute Freunde. So ist es nicht immer gewesen, aber wir haben zurück zu einander gefunden. Meine Kinder und ich sind seit fünf Jahren deutsche Staatsbürger. Die Kinder gehen in die deutsche Schule Stockholm. Ich mag die deutsche Sprache und die deutsche Kultur. Ich fühle mich in der Bundesrepublik sehr wohl, und reise sogar gerne mit der „Bahn“. Und ich bin selbstverständlich ein großer Fan der Nationalelf!

MH: Meinen Sie, dass sich Ihr Leben verändert hätte, wenn Ihnen Ihr Vater damals schon mehr über seine Vergangenheit erzählt hätte?

TSW: Sicher, aber das Dritte Reich war nicht ein Thema worüber wir sprachen. Ich habe verstanden, dass es so in vielen deutschen Familien gewesen ist. Mein Vater ist 1983 gestorben, er hat den Mauerfall und das Deutschland danach nicht erlebt. Vielleicht wäre es für uns heute möglich darüber zu sprechen wovon man nicht sprechen konnte. Vielleicht…

Ich denke, dass eine Voraussetzung dieses Projekts ist, dass mein Vater schon mehrere Jahre gestorben war als ich damit angefangen habe. Er vermochte nicht über das Thema sprechen, und das habe ich respektiert. Aber mein Vater hat viel zum Projekt beigetragen. Er hat Material hinterlassen und er hatte angefangen seine Memoiren zu schreiben als er starb.

John, Max und Walter. Das Foto entstand 1914, wenige Tage vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

John, Max und Walter. Das Foto entstand 1914, wenige Tage vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

MH: Zu guter Letzt: welche Tipps würden Sie Menschen geben, die selbst die Familiengeschichte erforschen?

TSW: Für mich geht es in der Ahnenforschung um Menschen, Personen die leben oder gelebt haben. Ich bin sehr dankbar für alle Menschen, die ich getroffen habe und die mir in verschiedenster Weise geholfen haben. In jedem Archiv arbeiten Experten, die wirklich wertvolle Hilfe leisten können und es gibt auch Menschen in unserer Nähe, die uns assistieren können. Zum Beispiel habe ich mit einer Verwandten, die 90 Jahre alt ist, mehrere Reisen in Deutschland gemacht. Ich habe viel von ihr gelernt.

Bemerkungen

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  • Peter Ernst

    3. Mai 2011

    Fantastisches Interview!! Vielen Dank liebe Redaktion!

  • Meike Schuler-Haas

    3. Mai 2011

    Ein sehr ergreifendes Interview. Vielen Dank!

  • Sven

    4. Mai 2011

    Auch ich kann mich nur bedanken. Herr Wächter ist wirklich eine sehr faszinierende Persönlichkeit. Seine Homepage ist super!

  • Dominik

    6. Mai 2011

    Danke für das Interview. Zufälligerweise fast gleichzeitig erschienen, als ich auf die Webseite der 32 Postkarten gestossen bin. Toll, wie hier die Familiengeschichte aufgezeigt wird. Sehr inspirierend!

  • Mark

    19. Februar 2014

    Das Buch erscheint bald: