Auswanderung – für kurze Zeit oder für immer – in benachbarte Länder

Auswanderung – für kurze Zeit oder für immer – in benachbarte Länder

Für kurze Zeit oder für immer – warum sind eure Vorfahren ausgewandert? Haben sie gehofft, dass sie nach ein paar Jahren wieder zurück wären? Oder haben sie tatsächlich geplant, sich für immer im Ausland niederzulassen?

Heute im Blog schreibt Hans-Peter Geis über die Gründe, warum die Deutschen in die Nachbarländern auswandern.

„Wenn die Menschen sich in fernen Ländern niederlassen, so mag ein wenig Abenteuerlust mitschwingen, aber wenn viele für kurze Zeit als Wanderarbeiter in benachbarte Länder ziehen – oft gehen sie zu Fuß über 100 km -, dann treibt die reine Not sie dazu. Aber trotzdem sind wohl einige hängen geblieben. Wie meine Tante – sie trieb nicht die Not, sie war Musikerin –  die sich in einen Musiker des Amsterdamer Concertgebouw-Orchester verliebte und ihn heiratete. So entdeckt vielleicht auch der eine oder andere von euch ebenfalls eine Verbindung nach Holland.

Aus dem Raum Oldenburg-Osnabrück wandern schon seit dem Dreißigjährigen Krieg, also um 1650, die Heuerlinge, Unterpächter auf Bauernhöfen, in der Zeit zwischen Aussaat und Ernte in die Niederlande, um dort als Grasmäher und Torfstecher zu arbeiten. Es gibt jetzt so viele von ihnen, dass im Jahr bis zu 30000 im Akkord das letzte aus sich herausholen, damit sie mit dem verdienten Geld zu Hause ihre Pacht zahlen können. Nach der Jahrhundertmitte wandern dann aber so viele nach Amerika aus, dass die Lebensbedingungen der Heuerlinge besser werden und nur noch wenige nach Holland gehen. Sie tun es bis 1914.

Im Lippischen verdienen einige tausend kleine Bauern von April bis November in ganz Mittel- und Nordeuropa als wandernde Ziegler ihr Geld, ihre Landwirtschaft spielt kaum noch eine Rolle. Diese Tradition hält sich bis in die 1960iger Jahre!

Den Bauern auf den guten Böden im Süden Deutschlands  geht es so gut, dass hier die Wanderungen in die andere Richtung gehen: Jedes Jahr wandern Tausende Bergbauernkinder im Alter von 5 bis 14 Jahren aus der Schweiz und Österreich über die Berge, um im Sommer bei den reichen Schwaben als Hütejungen, Knechte und Mägde zu arbeiten. „Schwabenkinder“ nennt man sie, auf  Märkten heuern Bauern sie an. Das endet erst um 1920.

Andere der wanderlustigen Deutschen treibt es aus den verschiedensten Gründen in die Welt hinaus. Zwischen 1820 und 1848 ziehen alleine 1-1,5 Millionen Deutsche in Europa herum. Unter ihnen sind so berühmte Leute wie Richard Wagner, der auf der Flucht vor Gläubigern weit in Europa herumkommt. Die Schriftsteller Heinrich Heine und Ludwig Börne weichen vor den Spitzeln des Metternich-Systems nach Paris aus, Georg Büchner nach Zürich, Freiligrath und Kinkel nach London.

Die meisten jedoch sind Handwerker oder gar ungelernte Arbeiter. Sie sind überall in Europa zwischen Rom und Oslo unterwegs, nur ein Teil von ihnen bleibt für längere Zeit am gleichen Ort. Es sind Schuster, Schneider, Schreiner, Maurer, Gerber, Schlosser, Bäcker, Metzger. In Frankreich, das damals wirtschaftlich viel weiter entwickelt ist als der Nachbar, sind es auch Goldschmiede, Glasmaler und Instrumentenbauer. Einige der bekannten Champagnermarken mit deutschen Namen wie Bollinger, Roederer, Taittinger gehen auf deutsche Einwanderer zurück, so kommt der Urvater der Marke Krug im Jahr 1830 aus Mainz.

Auf dem Höhepunkt, kurz vor der Revolution von 1848, gibt es in Paris 62000 Deutsche. Die meisten allerdings sind Ungelernte aus den übervölkerten Dörfern des deutschen Südwestens, die kein Geld haben nach Amerika auszuwandern, und froh sind, dass sie in Paris die Straßen fegen dürfen, sie arbeiten in Fabriken, sie sammeln Lumpen, sie sind beim Straßen- und Kanalbau dabei. Konzentriert an gewissen Stellen, bleiben sie meist unter sich, lernen kaum Französisch und leben in unvorstellbarer Armut. Ganz anders die einigen tausend Handwerker, die gut leben und deren Kinder schon richtige Franzosen sind. Die Zeit der deutschen Armen endet in den 1880iger Jahren.

Große „Kolonien“ von Handwerkern und Arbeitern gibt es in der Schweiz, in Belgien, in London. 1836 fangen sie unter dem Einfluss von politischen Flüchtlingen an, sich in Frankreich, der Schweiz, in Belgien zu Bünden zusammenzuschließen, die soziale Gerechtigkeit wollen. Die wandernden Handwerker bringen deren Ideen bis in den Deutschen Bund, in dem aber nach 1849 der österreichische Staatskanzler Metternich alles dafür tut, dass sich solche Gedanken  nicht verbreiten. Unter diesen Bünden ist der Bund der Gerechten, aus dem Marx und Engels 1847 den Bund der Kommunisten machen. Viele der einfachen Leute kehren nach 1848 in die Heimat zurück, viele politische Emigranten im Jahr 1867 nach einer Amnestie. Die vielen deutschen Handwerker, die sich im norwegischen Christiania (heute heißt es Oslo) niederlassen, gründen dort die ersten Turn- und Gesangsvereine.

Bild: Stammbuch des Männer-Turnvereins in Christiania (heute heißt es Oslo), gegründet den 13.April 1855. Auf seiner Vorderseite das deutsche Turnersymbol mit den vier F, das zurück geht auf den „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852): Frisch, fromm, fröhlich, frei. Aus: H.Günther: Neue Heimat in Norwegen. Herrenalb 1961

Bild: Stammbuch des Männer-Turnvereins in Christiania (heute heißt es Oslo), gegründet den 13.April 1855. Auf seiner Vorderseite das deutsche Turnersymbol mit den vier F, das zurück geht auf den „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852): Frisch, fromm, fröhlich, frei. Aus: H.Günther: Neue Heimat in Norwegen. Herrenalb 1961

Mehr über die wanderfreudigen Deutschen findet ihr in meinem Buch „Bauer Bürger Arbeitsmann. Geschichte der Menschen deutscher Sprache“. Wer es näher kennen lernen will, kann sich schon mal auf der Webseite www.bauer-buerger-arbeitsmann.de orientieren.

Das nächste Mal werde ich dann über die große Einwanderungswelle nach Nordamerika im 19. Jahrhundert berichten.“

Vielen Dank Herr Geis! Wir warten gespannt auf den nächsten Beitrag!