Gegen das Vergessen: Buchtipp – Annas Spuren

Gegen das Vergessen: Buchtipp – Annas Spuren

Letzte Woche las ich zufällig einen Artikel über das rührende Buch: Annas Spuren. Ich war beim Arzt und hatte einfach eine Zeitschrift in den Händen und las fasziniert über die Geschichte einer Frau, Sigrid Falkenstein, die den Namen ihrer Tante einfach gegoogelt und etwas Unglaubliches dabei entdeckt hat: Ihre Tante wurde im Krieg ermordet und ihr Name stand auf eine Liste von Opfern der nationalsozialistischen Euthanasie-Aktion. Entsetzt recherchierte sie über das Programm der Nazis, die hunderttausenden kranken und behinderten Menschen exterminiert haben, weil sie als „minderwertig“ eingestuft worden sind.

Aber auch wichtig: mit ihrer Recherche wurde ein Familiengeheimnis entlüftet: Anna war geistig behindert. Falkensteins Vater – Annas Bruder – schon weit über 80, konnte sie sich kaum noch an seiner Schwester erinnern. Er wusste, dass sie in einer Hilfsschule gewesen war und, dass sie mit der Diagnose „Schwachsinn“ eingestuft worden war, weil sie Schwierigkeiten beim Lernen hätte. Aber sie sei „sehr lieb“ und ganz normal gewesen.

Für Frau Falkenstein fing somit eine Lebensaufgabe an. Sie versuchte Annas Leben zu rekonstruieren. Sie recherchierte an allen Fronten und so erfuhr sie mehr über Euthanasie, nutzte verschiedenen Archiven, Patientenakten und Gespräche mit Familienmitglieder für ihre Recherche. Es war ein sehr schmerzhafter Prozess, aber extrem wichtig, um Würde in das Leben der verstorbenen Frau zurückzubringen.

Insbesondere für ihren Vater war diese Rekonstruktionsarbeit sehr wichtig, weil der Umgang mit dem Thema Behinderung stark stigmatisiert ist. Nicht nur in Frau Falkensteins Familie, sondern auch in der gesamten Gesellschaft. Das Buch fasziniert, weil

„es die Hauptperson mit einer Würde ausstattet, die ihr zu Lebzeiten nie zuerkannt worden ist und die nun dazu führt, dass der Leser sich mit einer Behinderten identifiziert, einer Person, die an den Rand der Gesellschaft geriet, weil Verwandte, Ärzte, Lehrer die Nähe zu ihr als peinlich, als abstoßend empfanden.“ (Spiegel 25/2012)

Leider habe ich das Buch, das ich umgehend bestellt habe, noch nicht gelesen. Aber ich bin so angetan von Annas Geschichte, dass ich gar nicht aufhören kann, darüber nachzudenken. Es ist eine Geschichte von Trauer, aber auch mit einer Art Happy End, da Frau Falkenstein genau das erreicht hat, was sie vorhatte: das Nachdenken anregen. Denn Menschen mit Behinderungen gibt es nach wie vor, nicht nur in Deutschland sondern in der ganzen Welt.

Ab wie geht man mit behinderten Menschen heutzutage um? Wie ist es in Eurer Familie? Habt Ihr oder hattet Ihr Verwandte mit Behinderungen? Könnt Ihr problemlos mit ihnen umgehen oder guckt Ihr einfach weg, wenn Ihr jemanden mit Behinderung seht, weil Ihr nicht wisst, wie man damit umgehen soll? War das früher anders?

Ich hoffe ich lese Eure Meinung dazu! Und wenn Ihr das Buch schon gelesen habt, dann teilt bitte ebenfalls Eure Meinung mit uns!

Bemerkungen

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  • anna

    25. Juli 2012

    Ich werde mir das Buch gleich bestellen. Aber wie ich das verstehe, war Anna nicht behindert sondern hatte lediglich Lernschwierigkeiten? Wie unzählige Kinder heute, weil ja sehr viel bekannt ist.
    Wie ich mit Behinderten umgehe?
    Ich bin selbst behindert. Ich bin fast taub sollte aber immer normal sein, ging in eine völlig normale Schule etc. Da ich gut Lippenlesen kann, merkt man das normalerweise auch kaum. Nur wenn es mehr als eine Person ist, wirds schwierig. Sage ich dann doch mal, dass ich behindert bin, wäre ich vielfach als Lüngerin hingestellt. Selbst meine Mutter kann meine Behinderung bis heute nicht akzeptieren, wohl weil sie mir mit damals zu spät zum Arzt ging und Schuldgefühle hat. Erst vor einigen Jahre schenkte sie mir einen Radio, super 😉
    Nachdem ich dann auch noch vergewaltigt etc wurde von einem „hohen Tier“ und alles schließlich zur Anzeige kam (lange Geschichte) und dann nach Jahren des hinausschiebens der Täter auch noch freigesprochen wurde, bin ich nur noch ein einsames Wrack, von allen gehasst und verhöhnt, verlasse die Wohnung nur noch im unumgänglichen Notfall. Schlafen ist Luxus, meine Katzen sind meine einzigen Ansprechpartner.
    Meine „Familie“ sind heute meine Ahnen und dank Internet ist das meine täglich Hauptbeschäftigung.
    So kann sich seine Familie selbst „zusammenbasteln“. Nur schade, dass sie mich nicht wenigstens einmal in den Arm nehmen können. Na schon gut, ich hör schon auf, kein guter Tag heute, mein Nachbar macht mir gard wieder die Hölle heiß.
    Aber warum ich schreibe: nicht vergessen, dass es auch „Behinderte“ gibt, denen man die Behinderung überhaupt nicht anmerkt.

  • rene talbot

    23. März 2013

    Kommentar zu der Behauptung oben: „…ihr Name stand auf eine Liste von Opfern der nationalsozialistischen Euthanasie-Aktion.“
    Hagai Aviel, der die Liste veröffentlicht hat, hat mich gebeten, diese falsche Behauptung richtig zu stellen, denn es handelt sich um eine Liste von Opfern systematischen ärztlichen Massenmords. So ist sie dort auch bezeichnet. Die Verwendung des Wortes „Euthanasie“ ist
    Nazi-Jargon, wenn damit der systematische ärztlicher Massenmord von 1939 bis 1949 gemeint ist. Die Opfer werden sonst noch einmal – jetzt – entwürdigt, ihnen ihr Willen negiert, wenn ihnen mit dem Gebrauch des Wortes “Euthanasie” (also „Tötung auf Verlangen“) für ihre Ermordung unterstellt wird, sie hätten ihren Tod gewünscht. Der Gebrauch dieses Wortes für den systematischen ärztlichen Massenmord von 1939 bis 1949 ist die direkte Reproduktion von Ärzte-Nazi-Ideologie, Ausdruck von Solidarität mit den Tätern und der Versuch einer Vertuschung von deren Schuld.
    Ausführlich werden die Zusammenhänge hier dargestellt: